Die Sprache des Traumes : eine Darstellung der Symbolik und Deutung des Traumes in ihren Beziehungen zur kranken und gesunden Seele für Aerzte und Psychologen / von Wilhelm Stekel.

  • Stekel, Wilhelm, 1868-1940.
Date:
1927
Catalogue details

Licence: In copyright

Credit: Die Sprache des Traumes : eine Darstellung der Symbolik und Deutung des Traumes in ihren Beziehungen zur kranken und gesunden Seele für Aerzte und Psychologen / von Wilhelm Stekel. Source: Wellcome Collection.

    17/468 (page 5)
    Gelegenheit für sie, den verstorbenen Vater wieder einmal fortleben zu lassen. Sie machte ihii also im Traum zum Uhrmenschen, indem sie ihn die Viertelstunden der Mittagszeit sagen ließ.“ Wer dieses Wortspiel „Uhrmensch“ und „Urmensch“ gezwungen findet, wird vom geistreichen Meister belehrt, daß dieser Witz im Wesen des Traumes liege. Die Träumerin wünscht ihren Vater zu sehen, und der willige Traum erfüllt ihr diesen Wunsch. Also nach Freud eine typische, klare Wunscherfüllung. Ich würde aber diesen Traum als eine Warnung auffassen. Der Tod des Vaters hat die Patientin stark beein- flußt und ihre Gedanken vom Weltlichen auf das Überirdische gelenkt. Sie beschäftigt sich mit dem Thema des Lebens nach dem Tode. Das irdische Leben soll doch nur eine Vorbereitung des ewigen himmlischen sein. Es ist nun, als ob der Vater ihr zurufen würde: „Dein Leben geht zu Ende! Nütze deine Zeit aus! Bald schlägt die zwölfte Stunde (die Geisterstunde)! Bald ist dein Tag beendet!“ In geradezu genialer Weise ist das Drängen der Zeit durch die Steigerung ausgedrückt: „Es ist schon viertel Zwölf, es ist halb Zwölf, es ist dreiviertel Zwölf! Da die Neurose den Kampf zwischen Trieb und Hemmung in Form eines Leidens ausdrückt, verstehen wir das Leiden dieser Kranken. Eine Kraft drängt sie zu Genuß und Lebensfreude und die andere zum Verzichten und Überwinden. Der Vater erscheint als Repräsentant aller Autorität (also auch des himmlischen Vaters) und ruft ihr zu: „Verzichte auf alle irdischen Freuden und bereite dich für die Prüfung durch Gott, für die Ewigkeit vor. Deiner harrt das jüngste Gericht!“ Ist aber dieser Traum eine Wunscherfüllung? Hätte der Vater, wenn er ihrem Wunsche zufolge wieder erscheinen und die Sehnsucht nach einem Wiedersehen erfüllen sollte, keine anderen Worte, keine milderen Gesten, gefunden, um sich seinem Kinde wieder zu nähern? Ich sehe in diesem Traume nur die Macht des Gewissens. Ich fühle die quälende Angst, ich merke die folternde Reue über ein verfehltes oder verlorenes Leben, ich höre einen Angstschrei, der mich mit Mitleid erfüllt. Dieser Traum ist ein Warner und verrät uns zugleich die Zukunft dieser Träumerin. Sie wird auch weiterhin die Pfade der Askese und Ent- sagung wandeln. Sie wird fromm werden, und die Hoffnung auf himm- lische Freuden wird ihr den Entgang der irdischen ersetzen müssen. Mit Flammenschrift leuchtet am Traumhimmel der Patientin der Hinweis auf das Ende, das uns allen beschieden ist. Und das Wesen des Traumes? Es ist Wunsch, es ist Warnung, je nach der Kraft (Trieb oder Hemmung), die sich durchsetzt. Der Traum sucht Lösungen für unlösliche Aufgaben. Es ist ein Vergleichen der Ver- gangenheit mit der Gegenwart und ein Bauen der Zukunft. Er ist in seinem Reichtum unerschöpflich und nicht in eine Formel zu pressen. Er ist eigentlich unerklärlich wie das Rätsel des Menschen und doch so durchsichtig, wenn man nicht von vorgefaßten Meinungen ausgeht. Lassen sich die Gedanken des wachen Menschen auf eine Formel zurück- fiihren? Oder denken wir nur in Wunscherfüllungen? Diese Frage er- übrigt sich ja durch die Tatsache des Gewissens. Der Traum ist der Strom unserer Seele, der durch das Filter des Gewissens aus unerforschter Tiefe in die Höhe steigt Jedes Einschlafen ist ein Sterben für den Tag. Jedes Erwachen ein Neugeborenwerden. In sonderbaren Bildern schleicht sich der Ge-