Die progressive allgemeine Paralyse / von R. v. Krafft-Ebing.

  • Richard von Krafft-Ebing
Date:
1894
Catalogue details

Licence: Public Domain Mark

Credit: Die progressive allgemeine Paralyse / von R. v. Krafft-Ebing. Source: Wellcome Collection.

    18/124 (page 8)
    Freunde und Verwandte ihn darauf aufmerksam machen, besitzt er kein Verständniss für ihre Becriminationen und bleibt davon unbeeinflusst. Der ethische Ausfall kann noch weiter sich erstrecken, ohne dass schon ein greifbarer Defect in der intellectuellen Sphäre nachzuweisen wäre. Der Kranke greift zu Mitteln in der Befriedigung seiner Bedürf¬ nisse, die nicht mehr bloss unmoralisch, sondern sogar verbrecherisch •* sind. Er greift als Beamter und Vertrauensperson fremde Gelder an, be¬ trügt beim Spiel, hält seine Verpflichtungen nicht ein, stürzt sich und Geschäftsfreunde in Geldverlegenheiten, eventuell in Bankerott. Er treibt sich gerne in Gesellschaft social tief unter ihm Stehender herum, lässt sich Zechprellereien und andere Betrügereien zu Schulden kommen, stiehlt eventuell Verwandten und Bekannten Werthgegenstände. Schon längst ist auch das ästhetische Gefühl abgestumpft. Der Kranke vernachlässigt seine Toilette, wird salopp, unreinlich. Er lässt sich gehen in Bede und Benehmen, verletzt die Etikette, den guten Ton, selbst den Anstand. Häufig und früh regt sich der Geschlechtstrieb mit abnormer Stärke. Der Betreffende wird ein zudringlicher Courmacher und Freier, lasciv, selbst cynisch in der Unterhaltung im Salon, er geräth in die Hände von Damen der Demimonde, lässt sich von ihnen ausbeuten, zu Heirathsversprechen bestimmen. Seine Vita sexualis kann sich pervertiren, und bei seiner ge¬ schwächten Moral kann es zu Sodomie und Delicten an Kindern kommen. Masslose Beizbarkeit, brutaler Egoismus führen zu Conflicten mit der Aussenwelt, mit Nebenbuhlern, mit Wirthshausgästen, selbst Amts¬ personen und Polizeiorganen. Früh und bezeichnend ist der Ausfall ethischer und ästhetischer Functionen bei Schriftstellern und Künstlern. Ihre Schöpfungen befremden nicht blos durch Banalität der Con- ception und des Styls, sondern auch durch Verletzung der Grundgesetze der Aesthetik. b) Früher oder später gesellt sich zu diesen ethischen und ästheti¬ schen Ausfallserscheinungen eine Tr Übung des Bewusstseins, vermöge welcher der Kranke nicht mehr wahrnimmt, dass er ein Anderer geworden ist. Damit schwindet der bisher noch zu Gebote gestandene Best von Be¬ sonnenheit und Bücksichtnahme auf Pflichten, wie sie die sociale Stellung, Anstand, gute Sitte auferlegen. Der Kranke treibt sich am hellen Tage mit zweideutigen Personen, selbst Prostituirten herum. Episodisch, anfalls¬ weise kann dieser geistige Betäubungs zu stand sich bis zu schwerer Umdämmerung des Sensoriums steigern, so dass der Kranke, der Belationen von Zeit und Ort temporär verlustig, in Stunde und Tag sich irrt, im Theater z. B. sich wie im Wirthshaus benimmt, in der Kirche anstössig