Volume 1

Gesammelte Abhandlungen, 1864-1910.

Erb, Wilhelm, 1840-1921.

Date:: 1910

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Credit: Gesammelte Abhandlungen, 1864-1910. Source: Wellcome Collection.

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reflexe, die normale Sensihililat und Blasenfiiiiktion, die fiir die imteren Ex- tremitaten ganz typische Jjokalisation der Muskelaffektion, und auch in der sonst fast vollig freien oberen Korperhalfte wieder das Befallensein einzclner typisclier Muskeln (Cucullaris, Supinator long.), sichern die Diagnose voll- koinnien und es hat keinen Wert, etwa noch langcre differentialdiagnostisclie Erwagiingen anzustellen. Es ist eben ein Fall von Dystrophie, wie es deren gar nicht wenige gibt, welche in der Lokalisation eine gewisse Eigenart zeigen: ein Fall, in welchern die untere Korperhalfte von der Erkrankimg weitaus bcvorzugt ist gegeniiber der obereiD, man ware versucht, ihn als »Dystrophia inferior« zu bezeichnen. Das kann ja auch umgekehrt sein und sich in den mannigfachsten Varietaten abspielen. Das lehrt die Kasiiistik der Dystrophie hinreichend. Es bedarf freilich in solchen Fallen einer eingehenden und meist zeit- raubenden Untersuchung, um die Diagnose mit geniigender Sicherheit fest- zustellen. Merkwiirdigerweise ist dies im vorstehenden Falle anscheinend bisher nicht gelungen, obgleich der Kranke eine ganze Anzahl von hervor- ragenden Klinikern und Neurologen bei sich zu Hause und im Ausland kon- sultiert hat. Es wurde eine ganze Anzahl verschiedener Diagnosen gestellt, die Pat. zum groBen Teil schriftlich vorlegen konnte. Meist wurde nur eine allgemeine Muskelschwdche angenommen und auf die vorhandene Anamie und das langst abgelaufene Imngenleiden bezogen; oder es wurde die Stoning auf eine schwere Neumsthenie mit Anamie zuruckgefiihrt; von einer Seite wurde, wohl wegen des Fehlens der Sehnenreflexe, der Verdacht auf Tabes (neben der Anamie und Muskelschwache) geauBert. Sollte man es fiir mdglich halten, daB hier eine Kompression des Riickenmarks durch Brustwirhelkaries diagnostiziert und Guajakol verordnet wurde? Und doch ist dies geschehen! Die genaue Mitteilung der Krankengeschichte, die ich oben gab, enthebt niich wohl der Verpflichtung, das Irrtumliche aller dieser Diagnosen im ein- zelnen nachzuweisen. Auch diese Beobachtung lehrt aber, ebenso wie die vorhergehende, aufs eindringlichste, wie es in solchen, nicht ganz banalen Fallen nur durch eine sell!' eingehende und sachgemaBe Untersuchung und langere Beobachtung moglich ist, sich vor diagnostischen Fehlgriffen zu schiitzen. Das ist ja er- mhdend und zeitraubend, und niemand weiB besser wie ich, wie haufig es fast unmoglich ist, im Drange einer vollen Sprechstunde eine ganz genaue Anamnese aufzunehmen und eine umfangreiche neurologische Untersuchung zu machen. Solche Irrtiimer sind ja verzeihlich — aber es ist doch gewiB merk- wiirdig, daB eine solche Haufung derselben in dem von mir mitgeteilten Falle stattfand. Und so mag es auch einem alten klinischen Lehrer erlaubt sein, das, was er seinen klinischen Zuhorern so oft und eindringlich aus Herz gelegt liaE auch hier vor dem groBen Leserkreise dieses Blattcs zu wicderholen: daB nur eine ganz eingehende anamnestische und klinische Untersuchung imstande ist, den Arzt in schwierigen und unklaren Fallen vor folgenschweren Irrtiimern zu bewahren. Der Fall lehrt auBerdem auch wieder, daB bei einer so genau gekannten und fast ininier leicht zu diagnostizierenden, typischen Erkrankung wie die Dystrophie sich unerwartete Schwierigkeiten durch die ungewOhnliche und * Fr. Schultze erwa.hnt soldie Fillle ausdriicklich nach Beobachtungen von J. Hoff- mann. S. deutsche Klin, am Eingang des XX. Jahrh. VI. l.S. 1263.