Diagnostik der Geisteskrankheiten für praktische Ärzte und Studierende.

  • Sommer, Robert, 1864-1937.
Date:
1901
Catalogue details

Licence: Public Domain Mark

Credit: Diagnostik der Geisteskrankheiten für praktische Ärzte und Studierende. Source: Wellcome Collection.

Provider: This material has been provided by the Harvey Cushing/John Hay Whitney Medical Library at Yale University, through the Medical Heritage Library. The original may be consulted at the Harvey Cushing/John Hay Whitney Medical Library at Yale University.

    413/424 (page 401)
    Wir lassen also die engere Bedeutung des Wortes Hypochondrie, welches sich wesentlich auf die abdominalen Zustände bezieht, bei Seite und denken dabei allgemein an die perversen Sensationen des Allgemein- gefühls und die daran geknüpften Vorstellungen. Es muss nun für die Praxis der Aerzte vor allem betont werden, dass ein grosser Theil der hypochondrischen Sensationen Folge von leichten chronischen Erkrankungen der vegetativen Organe sind. Eine Diagnose auf Hypochondrie darf also nur nach sorgfältigster physikalischer Unter- suchung und auch dann nur sehr mit Vorsicht gestellt werden. Wer einen Menschen mit beginnendem Carcinoma ventriculi als Hypochonder be- handelt, wird das Interesse der wissenschaftlichen Psychopathologie vor den benachbarten klinischen Disciplinen ebensowenig vertreten, als es zum Ruhme der internen Medicin gereicht, wenn ein „Hypochonder für krebs- krank erklärt wird. Schliesst man nun eine körperliche Erkrankung der vegetativen Apparate, welche hypochondrische Sensationen bedingen könnte, aus, so fragt es sich, ob im Nervensystem Processe sich abspielen, deren psychische Correlate (Sensationen), nach der Peripherie projicirt, eine Hypo- chondrie vortäuschen können. Hier sind besonders die hypochondrischen Beschwerden bei Beginn der Tabes und Tabesparalyse zu erwähnen. Ist eine Erkrankung der vegetativen Organe und der Nervenappa- rate ausgeschlossen, so fragt es sich, ob diese hypochondrischen Beschwerden Symptom einer anderweitig charakterisirbaren Krankheit (z. B. Epilepsie, Tumor cerebri, Melancholie und besonders der Hysterie) sind, oder eine Hypochondrie sensu strictiori. Die meisten der als hypochondrisch bezeichneten Beschwerden sind hysterischer Natur. Die relativ seltenen Fälle von echter Hypochondrie gehören durchaus ins Gebiet der Paranoia und sind als Hallucinationen des Gemeingefühls mit einer den eigenen Körper betreffenden Wahnbildung zu cha- rakterisiren. Diese Auffassung der Hypochondrie als einer Form von Paranoia bedarf einer ausführlicheren Begründung, als sie im Rahmen dieser Dia- gnostik gegeben werden kann. Deshalb begnüge ich mich, vorläufig für das Bedürfnis des Praktikers folgende Regel aufzustellen: Diejenigen Formen von Hypochondrie, welche sich weder als Ausdruck einer Erkrankung von vegetativen Organen oder von Nervenapparaten, noch als Symptom anderweitig charakterisirbarer Krankheiten, besonders nicht als Symptom von Hysterie auffassen lassen, haben eine ebenso infauste Prognose, wie die vorgenannten Formen von Paranoia und trotzen fast immer aller Behandlung. Sommer, Psychiatrische Diagnostik. 2. Aufl. 9e