Sexualpädagogik, Erziehungshygiene und Gesundheitspolitik : Gesammelte Aufsätze und Vorträge (1916-1927).

  • Hodann, Max, 1894-1946.
Date:
1928
    VORWORT Es gibt heute in Rußland Lehrstühle für Erziehungs¬ hygiene. Die darin zum Ausdruck kommende Cooperation zwischen dem Arzt und dem Erzieher fehlt uns in Deutsch¬ land bisher fast völlig. In den folgenden Aufsätzen sind eine Reihe pädagogischer Fragen vom Blickpunkt des sozial¬ hygienisch und sozialpolitisch denkenden Arztes angeschnit¬ ten. Im Mittelpunkt dieser Fragen steht das Problem der Sexualpädagogik, ein Gebiet, dem die meisten Erzieher bei uns noch reichlich befangen, um nicht zu sagen hilflos gegenüberstehen. Gerade deswegen ist dieses Gebiet aber wie kaum ein anderes geeignet, uns erkennen zu lassen, daß die Entscheidung erzieherischer und ebenso ärztlicher An¬ gelegenheiten letzten Endes gesellschaftlich bestimmt ist, wir also eines eindeutigen gesellschaftswissenschaftlichen Stand¬ punktes bedürfen, wenn wir überhaupt zu diesen Dingen eine begründete Stellung finden wollen. Im Laufe der Jahre, aus denen die folgenden Aufsätze und Reden stammen, war ich in steigendem Maße bemüht, dieser Erkenntnis Rech¬ nung zu tragen, mit anderen Worten, die einzelne hygieni¬ sche Forderung einzuordnen in das gesellschaftliche Ge¬ samtbild. Ich bin der Überzeugung, daß das begreifliche Mißtrauen, das weite Kreise gegenüber Feststellungen und Forderungen des „Mediziners“ heute hegen, nicht eher zu beseitigen sein wird, bis die Ärzteschaft gelernt hat, unter Aufgabe des akademischen Standesdünkels menschlich-ver¬ traute Fühlung mit den breiten Massen des Volkes zu gewinnen. Heute besitzt sie sie nicht. Heute pocht sie auf
    eine, schon sehr angekränkelte Autorität. Nicht zuletzt diese Tatsache ist Schuld daran, daß auch seitens der Leh¬ rerschaft dem Worte des Hygienikers nicht immer die Be¬ achtung geschenkt wird, die im Interesse der heranwachsen- den Generation erwünscht wäre. Ich hoffe, daß mit Hilfe der folgenden Beiträge — einige Wiederholungen möge der Leser entschuldigen — die Arbeit der Erzieher durch die Erkenntnis biologischer Zusammenhänge befruchtet wird, wie vielleicht auch über den Kreis der Erzieher im engeren Sinne hinaus mancher an den gesundheitspolitischen Fragen Interesse gewinnen wird, die unsere Zeit bewegen. Berlin-Neutempelhof, Wiesenerstraße 34, im Oktober 1927. Dr. Max Hodann.
    INHALTSVERZEICHNIS 1. Das erotische Problem in der bürgerlichen Jugend¬ bewegung. 1916. 2. Sexualität und Jugend. 1916. 3. Wider die darwinistischen Schlagwörter. 1918 • 4. Zur Frage der Beratungsstellen für Geschlechts¬ kranke. 1920 . 5. Ärztliches zu den Schulstrafen. 1922 6. Erziehungsreform und Gesundheit. 1923 7. Sexualerziehung und Heilpädagogik in der Pro¬ duktionsschule. 1923 . 8. Du darfst nicht! 1924 .' 9. Was müssen unsere Genossen von der Eugenik wissen? 1924 . 10. Grundsätzliches zur Frage der Nacktgymnastik. 11. Neue Wege zur ärztlichen Versorgung der Bevöl¬ kerung. 1924 . 12. Mehr Planmäßigkeit bei der hygienischen Für¬ sorge! 1925 .. 13. Einleitungsvortrag zur Berliner Gesundheitswoche. 14. Der Geburtenrückgang nach dem Kriege. 1925 15. Aus der Praxis der gesundheitlichen Volksbeleh¬ rung. 1925 . 16. Über geschlechtliche Triebstörungen. 1925 • 17. Bevölkerungspolitisches aus Frankreich. 1925 • 18. Der Lehrer und das anomale Kind. 1925 • 19. Die sozialhygienische Fürsorge der Krankenkassen, insbesondere auf dem Gebiet der Geschlechtskrank¬ heiten. 1925 ; . 20. Probleme der Sexualpädagogik. 1926 21. Die Tuberkulosefürsorge. 1926 • 22. Zur Reichsgesundheitswoche. 1926 23. Deutsche Schulreform und Gesundheitspflege. 1926 9 17 28 55 42 47 51 60 66 74 77 82 87 95 97 102 108 115 121 151 157 141 146
    24. Querschnitt durch Berliner Mietskasernen. 1926 164 25. Gesundheitsreklame in Deutschland. 1926 169 26. Geschlecht und Beruf. 1926 . 185 27. Der Berliner Sexualkongreß. 1926 . 196 28. Sozialisierung des Heilwesens. 1926 • 200 29. Über Notwendigkeit und Aussichten der Ehebera¬ tung. 1927 . 205 30. Leitsätze zur Ausübung der sog. Eheberatung. 1927 209 31. Magnus Hirschfeld und das Institut für Sexual¬ wissenschaft. 1927 . 216 32. Sexualgefährdung und Sexualaussagen der Kinder. 1927 . 221 33. Die sexuelle Belehrung der Kinder. 1927 • 240
    DAS EROTISCHE PROBLEM IN DER BÜRGERLICHEN JUGENDBEWEGUNG Die heutige Jugendbewegung ist so wenig einheitlich, so sehr in Gruppen und Grüppchen zersplittert, daß wohl niemand, der nicht mitten in ihren Kämpfen steht, sie an¬ nähernd übersehen kann. Ich verstehe hier unter „Jugend¬ bewegung“ die Verbände der Jugend, die sich aus eigener Kraft, ohne Beeinflussung Erwachsener, vielmehr gegen deren Einfluß entwickelt haben, im Gegensatz zu allen Verbänden der Jugendpflege, mag sie konfessionell, poli¬ tisch oder durch eine bestimmte soziale Arbeitsrichtung bestimmt sein, im Gegensatz auch zu allen Jugendgruppen der Lebensreformverbände, die sich allerdings heute zum Teil selbständig zu machen beginnen und damit einen Übergang von den betreffenden Verbänden zur freien Jugendbewegung bilden. Diese Abgrenzung erscheint mir grundsätzlich wichtig: nicht weil das erotische Problem etwa außerhalb dieser Bewegung eine weniger wesentliche Rolle spielt, sondern weil die Erscheinungen, die ich kurz zu erörtern gedenke, hier am reinsten zutage treten: ein¬ mal infolge eines hochwertigen Gemeinschaftslebens, wie es die Bünde der freien Jugend auf weisen, dann aber, weil hier wirklich Jugend auf Jugend gestellt ist, unbeeinflußt durch äußere Bindungen, eher durch den Kampf gegen diese äußeren Bindungen, gegen Überlieferung, gegen Schule, der Not gehorchend leider auch gegen das Elternhaus. In der heutigen freien Jugendbewegung haben sich im großen und ganzen gesehen — zwei Hauptströmungen gebildet: Die seelische Grundlage der einen Richtung, ich nenne sie die romantische, ist das Erleben des Wander¬ vogels. Die andere, die kritische, umfaßt jene Gemein-