Die Hysterie nach den Lehren der Salpêtrière : Normale oder interparoxysmale Hysterie.

  • Gilles de la Tourette, Georges, 1857-1904.
Date:
1894
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Credit: Die Hysterie nach den Lehren der Salpêtrière : Normale oder interparoxysmale Hysterie. Source: Wellcome Collection.

Provider: This material has been provided by the Harvey Cushing/John Hay Whitney Medical Library at Yale University, through the Medical Heritage Library. The original may be consulted at the Harvey Cushing/John Hay Whitney Medical Library at Yale University.

    333/354 (page 315)
    Nichts, eine Sorge, die eine Person mit besserem Gleichgewichte mutig ertragen würde, fasst sie den Entschluss, sich zu töten, nimmt das Gift, das ihr zur Hand ist, oder stürzt sich ins Wasser. Am anderen Tage ist sie sehr zufrieden, dem Tode entronnen zu sein; sie lacht über ihre eigene Dummheit, bereit, bei der nächsten Gelegenheit ebenso zu ver- fahren. Ich glaube auch, dass die Hysterischen es aufrichtig meinen, wenn sie tragische Entschlüsse fassen, die sie bei der geringsten Wider- wärtigkeit wieder vergessen. Eine unserer Kranken, Albertine M . . . ., von ihrem Liebhaber schlecht behandelt, kauft Revolver und Patronen, um ihn und dann sich zu töten. Beim Eintritte bei ihr, sagt er ihr einige Koseworte, die ihren Zorn verschwinden machen; sie wirft den Revolver fort und alles endet mit einem schweren Anfall. „Wem ist es noch nicht vorgekommen, dass er aufrichtig einen heldenhaften Entschluss fasst und ihn nicht hält? Was soll man von solchen Fällen denken? Ich meine, sie erklären sich besser aus einem noch juvenilen Zustande des Charakters, als aus dem Verlangen, wissent- lich eine lächerliche oder frevelhafte Komödie zu spielen: denn die Hysterischen sind grosse Kinder, die nach flüchtigen Erregungen handeln, und bei denen von Freude zur Traurigkeit, von Liebenswürdigkeit zur Roheit, von Liebe zu Hass nur ein Sprung ist und vice versa. Ein ebenso gerechtes Urteil fällt Pitres über die den Hyste- rischen zugeschriebene Neigung zur Simulation. „Im allgemeinen, sagt er. hat man die Neigung der Hysterischen zu Verstellung sehr über- trieben, und zwar aus dem Grunde, weil man als hinterlistige Thaten Erscheinungen ansah, die man nicht verstand. Da man Anfälle, die der aktiven Behandlung hartnäckig widerstanden, nach der Darreichung von Brotpillen verschwinden sah, schloss man, dass die Anfälle simuliert seien, ein logisch falscher Schluss: denn die Einbildung ist in vielen Fällen ein therapeutisches Agens von unleugbarer Macht. Man sah. dass Hysterische unschuldige Personen imaginärer Verbrechen anklagten, und wenn diese Anschuldigungen als falsch erkannt worden, erklärte man, die Hysterischen hätten wissentlich gelogen, ohne zu bedenken, dass ihre Angaben der vollkommen wahre Ausdruck einer Halluzination oder eines Deliriums sein konnten, denen eine sehr echte pathologische Erscheinung zu Grunde lag. Die Simulation ist in der That unendlich viel seltener, als man behauptet hat und noch tagtäglich behauptet. Die Beschuldigung der Täuschung ist sehr oft die Folge von Unwissenheit oder von Vor- urteil von Seiten unerfahrener Beobachter: sie beruht auf Irrtümern in der Erklärung und auf einer ungenauen Analyse der Thatsachen. Wenn die Besessenen oder die Hexen des Mittelalters vor den Richtern ge- standen, dass sie auf einem Besenstiele zur Walpurgisnacht geritten seien, dass sie dort mit dem Teufel verkehrt, dass sie dort die oder die Person angetroffen hätten etc., so kann man nicht zugeben, dass sie, um sich interessant zu machen oder um Unschuldige ins Verderben zu ziehen, dies vorgegeben hätten, da sie doch selbst sich dadurch dem Scheiterhaufen aussetzten. Sie sagten nur, was sie in voller Wahrheit in dem Augenblicke der Halluzination gesehen und gefühlt hatten.