Nervöse Angstzustände und ihre Behandlung / von Wilhlem Stekel ; mit einem Vorworte von Siegmund Freud.

Date:
1908
Catalogue details

Licence: In copyright

Credit: Nervöse Angstzustände und ihre Behandlung / von Wilhlem Stekel ; mit einem Vorworte von Siegmund Freud. Source: Wellcome Collection.

Provider: This material has been provided by the Royal College of Physicians of Edinburgh. The original may be consulted at the Royal College of Physicians of Edinburgh.

    324/332 (page 312)
    In diesem Doppelleben liegt ja eigentlich die tiefste Ursache aller Neurosen. Während also auf der einen Seite gegen Zote und Frivolität zu kämpfen wäre, müßte andrerseits Offenheit und Ehrlichkeit der sexuellen Gesinnung als selbstverständlich erklärt werden. Die von Freud aufgeworfene Frage, ob unsere kulturelle Sexualmoral die Opfer wert ist, welche sie uns auferlegt hat, möchte ich entschieden mit einem kräftigen Nein! beantworten. Gerade die Erfahrungen, die wir an Bauern und Arbeitern machen, lehren uns die Schäden unserer lächerlichen Schein- tuerei in sexuellen Dingen. Was uns nottut, ist eine Entlastung von der niederdrückenden Wucht religiöser, ethischer und sozialer Hemmungen. Wir haben gesehen, eine wie große Rolle die malthusianistischen Lehren bei der Angstneurose und Angsthysterie spielen. Eine vernünftige Hygiene des Sexuallebens, die alle frustranen Erregungen meidet, wird viel dazu beitragen, die Angstempfindungen geringer zumachen. Hier muß die Aufklärungsarbeit der Hausärzte einsetzen. Sie müssen ihren Blick schärfen für das klinische Bild der Angstneurose und die ent- sprechenden Belehrungen erteilen. Es ist herzlich wenig, was wir über die Prophylaxe der Angst- zustände haben sagen können. Es sind nur lückenhafte Andeutungen, nur Ansätze zu einer neuen Wissenschaft, die wir in groben Umrissen umzeichen können, deren Details uns jedoch noch ein Rätsel sind. Das hängt damit zusammen, daß unsere Kenntnisse vom Sexualleben des Menschen noch sehr junge sind. Eine spätere Zeit wird die Zusammen- hänge zvTischen Sexualität und Neurose mit größerer Präzision erfassen und auf diese Weise auch eine zielbewußte Prophylaxe anbahnen können. Dazu wird es noch unermeßlicher Arbeit bedürfen. Es müssen Vor- urteile von Jahrtausenden beseitigt werden. Wir müssen mit der Er- forschung der Normalmenschen beginnen. Unsere Kenntnisse stammen von Beobachtungen an Kranken. Es dämmert uns die Wahrheit, daß die Gesunden nicht anders geartet sind. Wir scheuen uns noch, die Schlüsse aus diesen Tatsachen zu ziehen und das Problem der Angst vom Individuellen ins Soziale zu verlegen. Welche Fülle von Fragen drängt sich uns übermächtig auf! Wii' überlassen ihre Lösung ruhig der Zukunft!