Nervöse Angstzustände und ihre Behandlung / von Wilhlem Stekel ; mit einem Vorworte von Siegmund Freud.

Date:
1908
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Credit: Nervöse Angstzustände und ihre Behandlung / von Wilhlem Stekel ; mit einem Vorworte von Siegmund Freud. Source: Wellcome Collection.

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    sich die Lebensaufgabe stellen, die Summe aller Angstaffekte zu be- rechnen. Es käme dann eine ungeheure Zahl zustande, ein Rieseuozcan menschlicher Leiden würde sich uns zeigen, der durch die TrHnen der Unglücklichen immer aufs neue gefüllt wird. Die Menschheit ist mit Angst überladen. Wohin wir den Blick senden, überall stoßen wir auf Angst. Angst für sich und für die anderen, Angst vor sich und vor den anderen. Alle Lebensfreuden drohen in diesem Meere von Angst zu ersticken. Lebensfreude ist eine Empfindung, die die wenigsten Menschen und auch die nur für gewisse Momente fülüen. Immer schiebt sich das unheimliche Gespenst der Angst dazwischen, welche im Grunde ge- nommen stets Todesangst oder Angst vor der Vernichtung ist. Ich habe mich nach meinen schwachen Kräften bemüht, zu be- weisen, wie man durch seehsche Behandlung die Angstzustände heilen kann. Aber wichtiger als die Therapie der Angstzustände ist ihre Prophylaxe. Freilich, wir leiden alle unter der Verdrängung. Wir leiden alle unter der falschen Moralheuchelei. Wir leiden alle unter den Eindrücken einer lügenhaften Zeit, die die Wahrheit feig verbirgt und die Lüge auf den Thron setzt. Die Ursache aller Seelenkrankheiten und auch der nervösen Angstzustände ist die Verdrängung. Man sieht in der Kur, wie erleichtert die Kranken aufatmen, wie sie sich förmlich von einer Zentnerlast befreit fühlen, wenn sie sich über alles sine ira et studio aussprechen können. Unsere Gesellschaft müßte auf eine ganz andere Grundlage gestellt werden, wollte man eine wirksame Prophylaxe der Neurosen durchführen. Wäre eine solche Prophylaxe überhaupt möglich ? Ist der Gedanke keine utopistische Wahnvorstellung? Wer die vorstehenden Seiten aufmerksam gelesen hat, kann sich ja die Antwort selber geben. Es erhellt daraus mit unzweideutiger Klar- heit, daß in der Unterdrückung und Vergewaltigung des Geschlechts- triebes wie des Trieblebens überhaupt die Ursache aller Angst zu suchen ist. Wir wären also verpflichtet, wollten wir konsequent bleiben, eine Freiheit der Geschlechtsbeziehungen zu fordern, die jede Unterdrückung und Verdrängung überflüssig machen -würde. Nun ist das gewiß eine Forderung, deren Erfüllung teils aus ethischen, teils aus kulturellen Gründen unmöglich ist. Wir haben gesehen, eine wie mäch- tige Rolle Inzestgedanken in den Phantasien der Neurotiker spielen, wie sie beim Aufbau der Neurose gCAvissermaßen das Fundament ab- geben. Wir werden nicht so vennessen sein, dafür zu plädieren, die Schranken des Inzest niederzureißen. Wir können nur den Weg zeigen, den man gehen muß, um die Entstehung solcher Inzestgedanken zu hindern. Doch auf die krankhaften Sexualempfindungen wollen wir erst später eingehen. Wie steht es zunächst mit der Wertung der normalen? Leider ist in unserer Zeit die Sexualität mit dem Sündenbegriff so innig verknüpft worden, daß schon die normalen sexuellen Empfin- dungen vom „keuschen Jüngling und vom „reinen Mädchen als Schuld empfunden werden und zur Neurose fuhren können. Das Schuld- bewußtsein ist die hauptsächlichste Ursache aller Neurosen und Psychosen. Wollen wir die Neurosen verhindern, so müssen