Die Störungen der Sprache : Versuch einer Pathologie der Sprache / von Adolf Kussmaul.

Kussmaul, Adolf, 1822-1902.

Date:: 1877

Catalogue details

Licence: Public Domain Mark

Credit: Die Störungen der Sprache : Versuch einer Pathologie der Sprache / von Adolf Kussmaul. Source: Wellcome Collection.

32/318 (page 18)

Ein taubstummer Knabe wurde im Jahre 1805 von der Polizei in Prag umherirrend gefunden. Da man nichts aus ihm herauszubringen vermochte, so schickte man ihn in’s Taubstummen-Institut, wo er unter- richtet wurde. Als er soweit gebildet war, um genaue Antworten auf vorgelegte Fragen zu ertheilen, gab er eine Schilderung dessen, was ihm von seinem früheren Leben erinnerlich war. Sein Vater, sagte er, hätte eine Mühle, vom Hausgeräth und der Umgebung gab er eine genaue Beschreibung. Ausführlich erzählte er von seinem Leben dort, wie seine Mutter und Schwester starben, sein Vater wieder heirathete, seine Stiefmutter ihn misshandelte und er davon lief. Er kannte weder seinen eigenen Namen, noch den Namen der Mühle, wusste aber, dass sie von Prag gegen Morgen lag. Man stellte Nachforschungen an und die Angaben des Knaben bestätigten sich. Die Polizei fand seine Heimath, gab ihm seinen Namen und sicherte sein Erbtheil. Aus dieser Beobachtung geht hervor, dass ein tauber Knabe, der die Lautsprache nicht erlernt hatte, doch eine Menge genauer Erinnerungsbilder in sich aufbewahrte und durch Urtheile zu rich- tigen Vorstellungen sehr verwickelter Verhältnisse verknüpfte. Dass er aber diese Vorstellungen ohne Mithilfe einer wenn auch unvoll- kommenen Geberdensprache sich verschaffte, geht aus der Erzählung wicht hervor. Es gibt keinen Taubstummen, der nicht eine Anzahl j^ I von Geberden erlernte, durch die er sich wenn auch nicht mit Frem- den , so doch mit seinen Angehörigen verständigte, er müsste denn Zugleich blödsinnig sein. Auch ist die Annahme gestattet, dass der Knabe, nachdem er in der Anstalt unterrichtet worden war, viele ^Erinnerungsbilder nachträglich in ihre richtigen Beziehungen brachte un(^ ersi; früher unverstandene Verhältnisse verstand. Wir sind ^ dazu berechtigt, weil nach der übereinstimmenden Schilderung so erfahrener Taubstummen-Lehrer, wie des Abbe Sicard und des Directors der Berliner Taubstummen-Anstalt Eschke, nicht unter- richtete Taubstumme sich kaum über die Verstandes- und Gemüths- stufe der Thiere erheben1). 2) Man beruft sich ferner auf die schon im zweiten Lebensjahre blind und taub gewordene Laura Bridgeman2), welche nur des Tastsinns vollkommen mächtig, — auch der Geruchsinn war fast, 1) Vgl. E. Schmalz, Kurze Geschichte und Statistik der Taubstummen- Anstalten u. s. w. Dresden 1830. S. 26 f. 2) Ihre Geschichte wurde von ihrem Lehrer Dr. Howe, dem Vorsteher des Blindeninstituts zu Boston, in mehreren Berichten veröffentlicht. Vgl. Zeitschr. für die gesammte Medicin von Fricke und Oppenheim, Bd. 13, 1840, S. 1. — Froriep’s neue Notizen, Bd. 21, 1842. S. 273. — Boz, Amerika. Uebers. von Moriarty, Th. 1. 1843. S. 56. — Bur dach, Blicke ins Leben. Leipzig 1844. Bd. 3.